Leipzig vor 75 Jahren:

 

Heisig, Herbert (Leipzig / Stuttgart). 04.12.1943.
Auf dem Dach des Verlagsgebäudes B. G. Teubner in der Leipziger Poststr.

 

 

„... Als die Alliierten (Amerikaner und Briten) im Laufe des Krieges ihre Luftwaffe immer stärker ausbauten, gab es ab 1942 zunächst nur auf dem westlichen Gebiete Deutschlands, später dann auf Berlin und schließlich auf das ganze Reichsgebiet immer schwerere Luftangriffe. Man wurde damals innerlich an den Ausspruch Herrmann Meyers (alias Göring) erinnert, der in seiner großspurigen, maßlos eitlen Art als Oberbefehlshaber der Luftwaffe, später Generalfeldmarschall und schließlich „Reichsmarschall“ bei Ausbruch des Krieges behauptet hatte, wenn es je einem feindlichen Flugzeug gelänge, über deutschen Boden zu fliegen, so wolle er Meyer heißen. Wer es gewagt hätte, 1943 an diesen Ausspruch zu erinnern, wäre unzweifelhaft wegen „Zersetzung der Wehrkraft“ am Galgen gelandet.

 

Am 4. Dezember 1943 früh etwa 3 ½ Uhr erfolgte schließlich, nachdem Leipzig vorher merkwürdig lange von Luftangriffen verschont geblieben war, einer der größten Luftangriffe des Krieges auf Leipzig, der auch für BGT (B. G. Teubner) schicksalhaft werden sollte, wurden doch in dieser einen Nacht die gesamte Innenstadt, das ganze Buchhändlerviertel und daran das stolze Teubner-Verlagshaus in der Poststraße 3 mit der architektonisch so schönen Fassade sowie sämtliche technischen Betriebe von Teubner (Setzerei, Druckerei, Buchbinderei) völlig zerstört. Das Unglück wollte es, daß die Feuerwehren von Leipzig, Halle usw. alle nach Berlin abgezogen waren, weil seit Wochen pausenlos Luftangriffe auf Berlin die „Reichshauptstadt“ in Trümmer legten. Ich selbst habe diesen schwersten Luftangriff auf Leipzig auf dem Teubnerdach am Scheinwerferstand erlebt. Seit einiger Zeit war ich, da nicht als Soldat eingezogen und nicht im Felde, zur sog. „Heimatflak“ (Flak = Flugabwehrkanone) beordert und am Scheinwerferstand auf dem Teubnerdach von einem aktiven Obergefreiten ausgebildet worden. Außer der Verlagsarbeit – sie war besonders intensiv, weil ich die verwaltungsmäßige Betreuung mehrerer Redaktionen, deren Leiter eingezogen waren, übernehmen mußte, und dies bei der immer schlechter werdenden Lebensmittelversorgung – kam nun alle drei Wochen noch der nächtliche Dienst unter bzw. auf dem Teubnerdach. Hierzu sei ergänzend noch bemerkt, daß eingezogene Teubner-Redakteure, als Ältere zumeist nicht kämpfend dabei gewesen, sondern beim Besatzungsheer, mehrfach schrieben, daß sie Gänsebraten nicht mehr riechen könnten und auch sonst übermäßig gut zu essen und zu trinken hätten (französische Weine!).

 

Die Bedienungsmannschaft des Scheinwerfers bestand aus 5 BGT-Mitarbeitern, davon war einer der „Werfer-Führer“, der den Einsatz des Scheinwerfers zu „kommandieren“ hatte; er empfing seine Befehle telefonisch von der Einsatzzentrale. Wir hatten alle drei Wochen eine Woche Einsatz, schliefen in Alarmbereitschaft in einer Behelfsunterkunft unter dem Teubnerdach auf Strohsäcken, hatten schäbige Uniformen, die jedoch nicht straßenfähig waren (wir wären auf der Straße als zerlumpte Soldaten aufgefallen und arretiert worden, auch hätten wir ja Vorgesetzte nicht soldatisch richtig grüßen können). Zu meinem Bedauern mußte ich die Funktion des Werferführers übernehmen. Die Nacht vom 3. zum 4. Dezember 1943 war die letzte unserer Einsatzwoche, dann sollten wieder 2 flak-dienstfreie Wochen folgen. Die Nacht war schon fast vorbei, da ertönten die Sirenen, der Befehl kam aufs Dach, an den Scheinwerfer zu eilen, und der Lautsprecher verkündete: Feindliche Bombengeschwader im Anflug auf Berlin drehen südlich ab in Richtung Leipzig … überfliegen Bitterfeld und werden in wenigen Minuten Leipzig erreichen. Und bald war es soweit. Ein ungeheures Dröhnen erfüllte die Luft, der Himmel über Leipzig war besät mit roten Lichtzeichen (im Volksmund „Christbäume“ genannt), die von den vorausfliegenden Führungsflugzeugen für die nachfolgenden Bomber als Zeichen für die Bombenabwürfe gesetzt wurden. Jetzt mußte jeden Augenblick der Befehl zum Einsatz der Scheinwerfer kommen, denn nur von Scheinwerfern erfaßte feindliche Flugzeuge konnten von der eigenen Flak beschossen werden. In diesem Augenblick rechnete man mit seinem Leben ab, denn das erste, was von Feindflugzeugen sofort vernichtet wurde, waren aufleuchtende Scheinwerfer, weil nur von diesen erfaßte Flugzeugen abgeschossen werden konnten. Die Scheinwerferstellungen hießen deshalb „Himmelfahrtskommandos".

 

Bald prasselten Abertausende von Brandbomben auf die Innenstadt nieder, die ersten auf das Dach des Opernhauses in nächster Nähe von BGT, das sofort in Flammen aufging. Weitere Brandbomben fielen in den einen der Teubnerhöfe und entzündeten dort den Benzintank für das Antriebsaggregat des Scheinwerfers. Der dort eingesetzte Teubnerianer, der im ersten Weltkrieg bereits verschüttet gewesen war, erlitt einen Schock und flüchtete in den Lutzschutzraum, wo er voller Panik berichtete, der Scheinwerferstand sei zerstört und wir vier oben draufgegangen. Ich harrte und harrte des Einsatzbefehles, der nicht kam, versuchte auch vergeblich per Telefon die Befehlszentrale zu erreichen. Als der Bombenhagel immer dichter wurde und ringsum alles lichterloh brannte, ergriffen meine Kameraden die Flucht über die Treppe nach unten und schrien mir zu, mitzukommen, ehe es zu spät sei – das Treppenhaus stehe bereits in Flammen. Ich verharrte noch eine Weile – das eigenmächtige Verlassen des Werferstandes insbesondere während einer Kampfhandlung stand unter Todesstrafe! –, versuchte noch einmal per Telefon die Befehlszentrale zu erreichen und hastete, als dies vergeblich war, dann ebenfalls über die Treppe nach unten, wobei ich bereits Flammen ausweichen mußte. Unten hockten wir alle nun gemeinsam unter dem Treppenabsatz zu ebener Erde und sahen durch das Schlüsselloch einer Tür die Straße draußen in hellen Flammen. Inzwischen fielen nach den Brandbomben die Sprengbomben, und wir mußten jeden Augenblick befürchten, daß das Haus über uns zusammenbrechen und wir darunter begraben würden. Da erschien wie ein deus ex machina plötzlich eine Gestalt mit rußgeschwärztem Gesicht – es war ein Heizer des Teubner-Hauses. Er führte uns durch unterirdische Gänge, in denen wir zumeist zwischen Rohren auf allen Vieren im Dunkeln kriechen mußten, Treppen hinunter, bis wir schließlich rußgeschwärzt im Luftschutzkeller landeten, wo wir Totgesagten mit ungläubigem Staunen von der Luftschutzgruppe, die dort Dienst hatte, empfangen wurden. Ich versuchte dann noch, über die Haupttreppe des brennenden Hauptgebäudes in mein im dritten Stock gelegenes Zimmer zu gelangen, was auch gelang, doch ein Versuch, per Telefon meine Frau zu erreichen, schlug fehl. Da in der Poststraße starker Funkenflug herrschte, wagten wir nicht das Haus zu verlassen. Etwas später erschien zu aller freudigem Erstaunen Martin Giesecke, der mit dem Fahrrad von seinem in Plagwitz gelegenen Haus durch die brennenden Straßen der Innenstadt gefahren war, um nach dem Verlagshaus zu sehen. Da die Flammen sich immer mehr den unteren Geschossen des Hauses näherten, verließen wir dann gemeinsam das Haus, um zu den schneebedeckten Hängen des nahen, hinter dem Opernhaus gelegenen Teiches zu gehen, wohin sich zahlreiche Menschen, darunter viele Frauen mit Babys auf dem Arm und mit Kinderwagen geflüchtet hatten. Erwähnt sei noch, daß sich Martin Giesecke zusammen mit dem Hausingenieur Willy Geitner vor dem Verlassen des Hauses in den zwei Stockwerke unter der Erde gelegenen Luftschutzraum begab, um zu sehen, ob dort noch irgend jemand zurückgeblieben sei, was tatsächlich der Fall war. – Als ich dann in den Vormittagsstunden nach Hause lief – sämtliche Verkehrsmittel fielen natürlich weg – erkannte mich eine Nachbarin in meinem Aufzug – rauchgeschwärztes Gesicht, blutunterlaufene Augen, unmögliche schäbige Uniform – nicht! Und meine Frau war nicht minder erstaunt, hatte sie doch wie alle am Rand der Stadt Wohnenden nicht mitbekommen, was im Stadtkern passiert war.

 

Für mich wurde der 4.12.1943, der mich dem Leben neu geschenkt hatte, eine Art zweiter Geburtstag, sogar ein doppelter: Nicht nur beim Aufleuchten des Scheinwerfers wäre mein Leben besiegelt gewesen, auch bei der Explosion einer Luftmine, die in den Teubnerhof eingeschlagen war und die Betondecke durchschlagen hatte, wäre ich ausgelöscht worden. Diese Luftmine hatte einen Zeitzünder, explodierte einige Stunden nach dem Angriff und zerriß das Teubner-Gebäude mit dem Scheinwerfer, dessen verbeultes und verrostetes Gehäuse noch Monate später in Trümmern am Georgi-Ring lag. Personen kamen bei der Explosion der Luftmine nicht zu Schaden. ...“

 

[Quelle: Irmgard Effenberger und Walter Effenberger, Stuttgart]

 

Leipzig, 04.12.2018.

 

http://www.stiftung-teubner-leipzig.de/1943-12-04-heisig-herbert-auf-dem dach-des-verlagsgebäudes-b-g-teubner-in-der-leipziger-poststr.htm

 

 

 

Siehe auch:

 
 

Geithner, Willy:
Bericht über die Angriffsnacht am 4.12.1943
im Werk B. G. Teubner, Leipzig C1, Poststr. 3/5

http://www.stiftung-teubner-leipzig.de/1943-geithner-willy-angriffsnacht-leipzig-dezember-1943.htm

 
 

Heisig, Herbert:
Nachruf auf Dr. Alfred Giesecke, November 1945

http://www.stiftung-teubner-leipzig.de/1945-heisig-herbert-nachruf-auf-alfred-giesecke.htm

 
 

Martin Giesecke / Herbert Heisig, 13. Oktober 1952:
An die Betriebsleitung und Betriebsgewerkschaftsleitung der
Firma B. G. Teubner u. B. G. Teubner Verlagsgesellschaft
zu Hd. Herrn Karl Taupitz. Leipzig C 1. Poststraße 3

http://www.stiftung-teubner-leipzig.de/1952-giesecke-heisig.htm